Über

…Jahrhundert der Geschwindigkeit!, tönen sie. Wo denn? Große Umwälzungen!, erzählen sie. Wie denn? In Wahrheit bleibt alles beim Alten. Sie bewundern sich selber die ganze Zeit, fertig.

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Vor den Menschen, vor ihnen allein muss man Angst haben, immer.

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Sobald Arbeit und Kälte uns nicht mehr knechten, sobald sie uns kurz aus ihrem Schraubstock lassen, erkennt man in den Weißen das, was man von einem anmutigen Ufer erkennt, wenn das Meer sich zurückgezogen hat: die Wahrheit, stinkig-schlammige Pfuhle, wimmelndes Getier, Aas, Kot.

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Alles Interessante ereignet sich im Dunkeln, ganz ohne Zweifel. Die wirkliche Geschichte der Menschen ist nicht bekannt.

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Das Leben lässt einem so oft nichts als Hirngespinste übrig.

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Vielleicht ist es ja das, was man im Leben sucht, nur das, den größten möglichen Kummer, um man selber zu werden, bevor man stirbt.

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Man rutscht auf allen Wörtern aus. Das kanns noch nicht gewesen sein. Nur noch Absichten, äußerer Schein. Der entschlossene Mensch braucht mehr.

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Der Geist gibt sich mit Phrasen zufrieden, der Körper ist da anders, anspruchsvoller, der braucht Muskeln. Ein Körper ist immer etwas Wahres, darum ist er meistens auch ein trauriger und abstoßender Anblick.

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Unser ganzes Unglück kommt daher, dass wir verdammt sind, so elendig viele Jahre lang Jean, Pierre oder Gaston zu sein und zu bleiben, koste es, was es wolle. Unser Leib, dieses Kostüm aus banalen, nervösen Molekülen, lehnt sich die ganze Zeit gegen diese schreckliche Zumutung des Weiterlebens auf. Unsere Moleküle wollen weg und sich zerstreuen, so schnell es nur geht, sie wollen ins Universum, die Süßen!

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Das ist das Leben, ein bisschen Licht, das in der Nacht verlischt.

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Schließlich ist das Leben ein prall mit Lügen gefüllter Wahn, und je ferner man sich ist, umso mehr Lügen kann man reinstopfen und umso zufriedener ist man, das ist nur natürlich und auch ganz in Ordnung so. Die Wahrheit ist nicht genießbar. Zum Beispiel ist es heute sehr leicht, uns alles Mögliche über Jesus Christus zu erzählen. Ob Jesus Christus vor aller Augen aufs Klo ging? Ich ahne, dass seine Nummer nicht lange gelaufen wäre, wenn er öffentlich geschissen hätte. Sich möglichst wenig sehen lassen, das ist die ganze Kunst, vor allem in Sachen Liebe.

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Man kann den Wörtern gar nicht genug misstrauen, sie tun so harmlos, die Wörter, sie wirken absolut nicht gefährlich, so, als wären sie nur ein sachter Lufthauch, leise Töne aus Mündern, weder kalt noch warm, aber wenn sie durch das Ohr eindringen, werden sie schnell von dem riesigen grauweichen Überdruss des Gehirns verschluckt. Man misstraut ihnen nicht genug, den Wörtern, und schon ist das Unglück passiert.

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Unter den Wörtern verstecken sich welche, die sind wie Kieselsteinchen. Man kennt sie nicht heraus, und auf einmal kommen sie und bringen das ganze Leben ins Wanken, das ganze, mit allen Schwächen und Stärken… Dann gibt es Panik … Eine Lawine …. Als wäre man aufgehängt, so baumelt man über den Gefühlen. … Ein Sturm ist hereingebrochen, über einen weggefegt, viel zu stark für einen, so wild, wie man niemals für möglich gehalten hätte, dass Gefühle sein könnten … Also, man kann den Wörtern nie genug misstrauen, so sieht für mich die Lehre aus.

Louis Ferdinand Celine, „Reise ans Ende der Nacht“